RADPLAN DELTA
 
LES GRANDES ALPES
 
Die Franzosen haben ihre „Route des Grandes Alpes“.
 
Ich möchte hier einen Parcours mit Um- und Abwegen vorstellen, der in vielen Teilen mit der klassischen Strecke zusammenfällt, aus praktischer Erfahrung des Strassenfahrers aber an anderen Stellen abweicht.
Sicher ist auf dieser Welt gar nichts, und so ist auch dieser Vorschlag weder ein Evangelium, zumal er an Stellen auch Alternativen und Schlenker einräumt. Beste Reisezeit ist der September, wenn das Azorenhoch nochmal kommt und für ein jahresübliches Zeitfenster von 10-14 Tagen das berühmte Kaiserwetter mit der Inversionswetterlage, die es auf 2500 Metern so angenehm warm macht, Einzug hält.
Vor Mitte oder Ende Juni ist die Route, vor allem wegen der Wintersperre des Iseran und der Bonnette, im Allgemeinen noch nicht möglich. Praktisch ist die Anreise per Bahn nach Genf, Thonon oder Martigny, um hinterher wieder mit der Bahn von Nizza zurückzufahren. Ein Traum ist natürlich ein Kleinbus, der mit Fahrer tageweise hinterherfährt, wobei dies auch wechselnde ganztägige Entspannung für einzelne Fahrer bedeuten kann.
 
Ausgangspunkt ist Martigny, man trifft sich am Ortsausgang Richtung St. Bernhard an der AGIP. ( Die originale Route des Grandes Alpes startet meines Wissens von Thonon, weil das in Frankreich liegt, und führt südlich über Flumet und den Cormet de Roselend nach Bourg St. Maurice). Der Grosse St. Bernhard ist ein „Lasterpass“, weil da anfänglich wirklich alle Art von Verkehr drübergeht, bis für den Transitverkehr die Tunneleinfahrt erreicht ist.
Vorher ist es in den Galerien teils eng, teils laut, und gute Nerven sind angesagt. Die alte Passstrasse ist schliesslich ruhig, und man erlebt den klassischen Vegetationswechsel, wenn man über eine der westlichsten Nord-Süd Hauptkammüberschreitungen der Alpen fährt. Auf der Südseite des grossen Bernie, bei der Abfahrt durch die Lärchenwälder, ist der Lärm der nördlichen Auffahrt Vergangenheit. Irgendwann kommt dann die Hauptstrecke wieder dazu, und man versinkt in Erstaunen, was die Strassenbauer da so alles konstruiert haben.
 
Aosta ist schnell erreicht, und nur die Suche nach einem geeigneten Supermercado ist die Herausforderung. Es geht nach Westen, zum kleinen Bernie, Richtung Courmayeur. Viel des KFZ - Verkehres geht inzwischen über die Autobahn, aber richtig Ruhe hat man erst hinter Pre St. Didier. Dann geht es zur Sache, und das ohne Umschweife. So lasch der kleine Bernie von Südwesten ist, so knackig ist er von Nordosten. Dadurch hat man Zeit, die Felswände mit 12 kmh zu bestaunen. Oben nach der Passhöhe ist es die total verrostete Eisenfigur rechts, die mich am Meisten beeindruckte und uns die Vergänglichkeit ins Bewusstsein rückt. Den Ausblick auf den Mt. Blanc sollte man suchen und geniessen, er ist fast nirgends so gut wie dort. Die Abfahrt ist lang und gemütlich; so, als wolle man auf dem Rad zwischenzeitlich noch ein Stück Kuchen essen. Man kommt östlich von Seez raus, doch es lohnt sich, eventuell noch kurz bis zum Ostende Bourg St. Maurice zu fahren, um im Centre Commercial Kohlenhydrate zu tanken. In Seez gibt es eine fast zu moderne Jugendherberge, in der man bei passender Streckeneinteilung gut übernachten kann. Campingplätze hat Seez auch, es liegt schöner draussen als Quartiere in Bourg St. Maurice.
 
Die nördliche Auffahrt zum Iseran ist anders, als man sich das klassisch vorstellt: Auf der Karte gerade bis Val d'Isere, dann Kehren. Ich habe es immer so erlebt, dass das schwierige Stück das Erste, vor Val d'Isere, ist. Da geht es geradeaus im Tal richtig hoch. Früh Morgens fahren, nachmittags ist das nicht so prickelnd. Kurz vor der Barrage ein flüchtiger Blick nach oben rechts, um sich der geballten und monströsen Kraft der 70er/80er Jahre Tourismusindustrie in Frankreich bewusst zu werden, denn da oben blinzelt einem liebreizend und zurückhaltend die Architektur von Tignes entgegen. Bald fährt man über die Schwelle von Val d'Isere, wo die Architekten heute sich sichtlich Mühe gegeben haben, die einstigen Baukolosse von damals durch alternativen Anstrich optisch geniessbarer zu machen. Die Platte lässt grüssen.
Frei auf der Strasse laufende Ziegen künden zuweilen den Ortsausgang von Val d' Isere an, es wird es kühler, der Verkehr weniger, die Landschaft karger, aber es macht mehr Spass, weil es endlich nach Pass riecht. Die Strasse wird nach der kardinalen Kehre nach hinten rechts schon eng, aber berg hoch war das nie ein Problem.
 
Oben MUSS das obligatorische Foto gemacht werden: sich selbst mit Rad zwischen die steinernen Wegweiser stellen, die nach links und rechts zeigen, alles schön symmetrisch, und dann einen Passanten fragen, ob er von der anderen Strassenseite bitte mal draufdrückt. Dieses Bild gibt es schon 1.000.000 mal, aber man sollte es selbst haben. Im Juni / Juli hat's da noch den Gletscher nach Südosten. Die Abfahrt nach Bonneval ist teils recht flott, wenn man es auf den 2 geraden Stücken im unteren Teil richtig gehen lässt. Lenker nicht wirklich festhalten, nur lose drumpacken hilft. Und den Hintern 3cm über dem Sattel.
Einkaufen geht später in Bessans (durch den Ort fahren!) besser als in Bonneval, und nach Bessans kommt rechts irgendwann die alte Strasse der Madeleine. Diesen Schlenker vielleicht fahren, das verlassene Dorf, eine Stelle, wo Seelen in der Lage sind, etwas anders zu ticken. Die Kirche gab den Namen für das Dorf, das Dorf für den Pass, der nur von der Westseite wirklich ein, dann aber nur kleiner, Pass ist. Die Abfahrt von der Madeleine ist einfach supersaugeil, weil das richtig grosszügige Motorradkurven sind, die man weitgehend ohne Bremserei mit 10 Sekunden Schräglage am Stück durchjubeln kann.
 
In Lanslevillard ist rechts der gefragte Brunnen zum Frischmachen, Geschäfte zum Auftanken und in der Jugendherberge von Lanslebourg, direkt mit Wasserrauschen des Arc, ein Schlafplatz bei Gabi, aber nicht auf den Rasen treten!
Dann werden wir uns entscheiden müssen, ob wir nach Süden weiter den Arc runter bis St. Michel, ( leider wird der Verkehr unterhalb von Modane saulästig), dann den Telegraphen hoch, auf den Galibier wollen. Das ist sicherlich die klassischere Route. Wer aber in St. Michel vor Überquerung des Galibiers eine Ehrenrunde drehen möchte, der sollte ohne weiteres Gepäck auf einen Tagesrundkurs gehen. Talabwärts bis St. Jean, das ist morgens leider etwas frisch, die Schnellstrasse etwas suspekt, aber es geht schnell vorüber. Links abbiegen nach St. Jean, schlingelschlangel durch den Ort der Ausschilderung Croix de Fer folgend. Die kleine Strasse weiss anfangs nicht so recht, ob sie steigen oder fallen soll, es gibt einige kurze Tunnels, der Blick nach Süden auf die „Rückseite“ der Grandes Rousses ist vor allem im Herbst ein Knaller, wenn eigentlich winzig kleine, aber millionenfache Steinkräuter in Rostrot in der Lage sind, Quadratkilometer eines Hanges in leuchtendes Rot zu verwandeln. Schliesslich kommt eine Gabelung, und gefühlsmässig bleibt man links in der Nähe der Talsohle, um bald nach St. Sorlin zu gelangen. Die Optik nach der Ortsdurchfahrt von St. Sorlin ist dann klassisch: vor dem Auge türmt sich das regelmässig-schulbuchmässig-wiederkehrende „Z“ des Passstrassenbauers auf. Die Läufe der Rinnsale begründen die kopfstehenden weissen „U“s der winzigen Brücken, und wir begreifen, wie Natur und Strassenbau funktionieren und ineinandergreifen. Die Auffahrt ist zivil, eine Kunst, die die Franzosen besser beherrschen als jede andere alpine Nation, davon bin ich überzeugt.
 
Wenn der zentrale Vermesser in Paris sagte 8%, dann wurde die Strasse so gebaut, dass die Linienführung zusammen mit der Topographie halt 8% ergeben, und zwar durchgehend. Wer in Italien, Slowenien oder Österreich gefahren ist, weiss, dass es auch anders geht. Die Schweizer kommen da noch am Ehesten dran. Nach den regelmässigen Kehren der Croix de Fer - Ostseite sollte man oben nicht durchrasen, sondern oben das fast unscheinbare Eisenkreuz wahrnehmen, das den Namen gab. Ich kenne seine Geschichte nicht, kennt sie jemand?
 
Der Glandon zur Rechten ist nur von der Nordseite ein eigenständiger Pass, auf dem sich allerdings innehalten lohnt, weil er nochmals, natürlich nur bei geeignetem Wetter, einen recht guten Ausblick auf den Kaiser, den Mt. Blanc, ermöglicht. Der kleine Abstecher in der gerade beginnenden Abfahrt vom Croix de Fer lohnt schon deshalb, es sind ja nur ein paar Meter. Ansonsten ist der Glandon wohl eine der unscheinbarsten Passhöhen, die ich kenne. Das sollte einen aber nicht dazu verleiten, den Glandon, egal von Süd oder Nord, radmässig zu unterschätzen, denn das wird bestraft. Der Weg weiter nach Süden führt lange vorbei an einem langen See, und man wünscht, es ginge endlich runter, doch erst muss wieder eine kleine Auffahrt bewältigt werden. Irgendwann geht es dann runter, und frag' nicht, wie. Es ist eines der wenigen Stücke, wo abgekochte Fahrer geradeaus in die Eisen gehen. Grund ist ein Jahrzehnte alter Bergrutsch, der eine provisorische Verlegung der Strasse auf die gegenüberliegende östliche Hangseite erzwang, und dies liess die Strassenbauer aus ihrer Prozentregel aussteigen. Ist hier das Stück, auf dem Hinault mit 110 kmh gemessen wurde?
 
Danach geht es zackig wieder auf die „richtige“ Hangseite, das braucht noch ein paar Körner. Am Fusse der Abfahrt liegt der Stausee, dort rechts über die Staumauer fahren, nicht geradeaus / halblinks wieder hoch. Hinter Allemond trifft die Strasse auf die Romanche und wir fahren links nach Bourg d' Oisans. Im Casino am Ortsausgang links Saft und Riegel fassen. Der Aufstieg nach Alpe d'Huez ist dreigeteilt: La Garde, Huez, Alpe d'Huez. Wer nach dem ersten Drittel in La Garde ist, hat das Prinzip verstanden, hat das Schlimmste hinter sich: Kehren, die direkt nach der Kurve brutal anziehen. Es muss für meinen Geschmack nicht Alpe d'Huez sein, denn da oben gibt es nichts, nicht wirklich. Wer in La Garde rechts abbiegt in Richtung Auris, bekommt etwas Neues, etwas Anderes, etwas Einmaliges: in der senkrechten Felswand schräg nach oben fahren! Der späteren Abzweigung links nach Auris nicht folgen, sondern geradeaus nach le Freney weiternavigieren. Der Strassenverlauf wird einen zurück zur Nationale 91, die Romanche hinauf, führen. Die lange Schlucht bis La Grave, der Wasserfall links, der sinnigerweise La Pisse heisst, der Eisschrank rechts oben, die klaustrophobische Enge, die herabfallende Kaltluft. Die Ecrins dort sind nicht das höchste Massiv, aber eine der massivsten Ansammlungen von vielen Gipfeln, die fast flächendeckend kurz unter oder bis über 4000 sind. Das fühlt man.
 
Der weitere Verlauf der Lautaret - Westseite ist durch Kurbeln ohne Stampfen zu lösen, und selbst der Galibier, der durch seine absolute Höhe eigentlich Respekt verlangt, ist von Süden nicht besonders schwierig. Die Abfahrt nach Norden vom Galibier dauert halt, dauert schön lange. Die Delle nach Valloire tut nicht wirklich weh, und die Kurven des Telegraphen sind weich, nicht brutal, das ist fast wie Musik, wie Ballett. An den steigenden Temperaturen merkt man schliesslich, dass St. Michel doch recht tief liegt.
 
Wer diese Tagesrunde nicht drehte, fährt also von St. Michel den Telegraphen von Norden her hinauf. Die Strasse ist schön schattig mit weichen Kehren und schont im Vorfeld des Galibiers. Oben auf der „Passhöhe“ sieht man die alte Festung, den eigentlichen „Telegraphen“ nicht mehr, man müsste rechts zu ihm extra hinfahren. In einer kurzen Senke fällt man hinunter nach Valloire, dort Teilchen essen, bevor der lange Galibier beginnt. Im Juni ist es oben noch frisch mit einem grossen Schneefeld links neben der Strasse. Der Tunnel ist inzwischen wieder geöffnet, doch das macht man als Pedaleur nicht. Zum Schluss zieht es halt nochmal für 4 Kehren von 8% auf 10% an, das lässt man doch nicht liegen.....Der Ausblick vom Galibier ist nicht schlecht, vor allem auf die Ecrins in Richtung Süden. Die Abfahrt zum Lautaret ist schnell, aber unproblematisch. Der Weg nach Briancon sollte in der Gruppe gefahren werden mit Rotation und Windschatten. Da bläst es gerne berg hoch, und dann hat man solo Mühe, das obere Durancetal runter zu kommen. Vor Briancon ist in Le Bez / Les Salles, rechts am Hang, eine grosse gemütliche Jugendherberge mit der kleinsten Selbstkocherküche in Frankreich. Richtig Einkaufen kann man allerdings erst in Briancon, das sind dann noch ca. 6-8 km.
 
Es gibt von Lanslebourg im Tal des Arc aus für die, die den Galibier schon kennen, noch eine nette Alternativstrecke, um nach Briancon zu gelangen. Von Lanslebourg / Lanslevillard geht es direkt nach Süden den Mt. Cenis hoch, breit, glatt, aber relativ wenig Verkehr. Man ist erstaunlich schnell oben, weil die Talstation schon hoch liegt. Oben ist der Lac du Mt. Cenis, und dort entstand das Foto der DELTA-Startseite. Die Abfahrt nach Susa ist lang, es geht richtig runter, Susa liegt tief. Auf dem Weg zum Montgenevre kommt linke Hand, schon ausserhalb der Stadt, nochmal ein Supermercado. Der Streckentip besteht darin, NICHT den Montgenevre zu fahren, sondern in Oulx weiter halbrechts nach Bardonecchia zu steuern. Dort den Echelle, italienisch Scala, suchen, er geht in Bardonecchia links ab. Das ist im Osten superklein, superschlecht, ein wenig steil und richtig schön. Um die kleineren und grösseren Felsbrocken auf der Strasse einfach herumfahren, denn bergauf geht das gut. Oben erwartet einen dann aber eine Märchenlandschaft, und ich kenne nicht viele Stellen, die da mithalten können. Die Abfahrt ist nicht lang, nicht schnell, aber dafür fährt man den Echelle auch nicht, sondern für die Seele.
 
Richtung Norden geht es ins Tal der Claree, dann links Richtung Briancon. Augen auf, tief einatmen, vielleicht eine Rast am Ufer der Claree. Ist der Name Programm? Wenn man nach Le Bez in die Jugendherberge will, eingangs Briancon oben am Fort Vauban rechts am Hang bleiben und Richtung Hopital fahren, dann muss man nicht runter ins Loch und behält grosse Teile der Höhe, statt sie nutzlos zu verbraten. Südlich von Briancon ist der Izoard ein Highlight der Tour. Die Auffahrt im Norden ist nicht hart, eher kühl und die Landschaft ein Gedicht. Dafür sollte man dann auf der Abfahrt etwas unerschrocken sein, denn da muss man sich entscheiden, ob man ständig in der Bremse hängt, das Rad schlägt, die Felgen heiss werden oder ob man grosszügig 20 Meter weiter nach vorne schaut, das Rad nicht mehr so verbissen festhält, gehen lässt und nach Kölner Mundart denkt: et hot nooch emmer jootjejange.
 
Zwischendurch gibt's dann noch diese Mondlandschaft im oberen Teil des südlichen Izoard, wo alles etwas unwirklich erscheint. Weiter unten kommt die Schlucht, und man ist gut beraten, den Pass tageszeitlich so zu legen, dass man nicht nachmittags um Drei da runter muss, denn das kann Arbeit werden. Der Wind bläst wie in einem Kamin scharf nach oben. In Guillestre kann man wieder einkaufen, sich am Brunnen vor der Tourist-Info fast duschen und über den Vars nachdenken. Unterhalb von Guillestre, im Tal noch vor der Durance sind Campingplätze und eine frischstens renovierte Jugendherberge. Den Vars fährt man von Guillestre streng genommen im verkehrten Sinn. Für den Vars gibt es eine Vorzugsrichtung: im Süden knackig hoch, im Norden affenartig runter. Diesmal ist er verkehrtherum dran. Der Anstieg ist dadurch etwas länger, doch auch dann noch gut zu bewältigen, auch wenn man schon etwas getan hat. In der Abfahrt wird man dann die schnellen Stellen und die teilweise abrupten Steigungsänderungen merken, für die Vars Süd bekannt ist. Ansatzweise gibt es kleinere Sprungschanzen, Vorsicht bei Highspeed.
 
Im Tal angekommen, gibt es kurz vor La Condamine links des Weges ein nettes Wandererheim mit Campingplatz: Caravaneige. Es ist aber schattig dort, und wer in Jausiers oder Barcelonette etwas Wärmeres oder Anderes oder Besseres kennt, warum nicht? Barcelonette ist gut für einen Zusatztag mit einem der besten Rundkurse in den französischen Alpen: nicht zu kurz, nicht zu lang, nicht zu schwer, nicht zu leicht, und mit Landschaft pur auf kleinen Strassen. Morgens geht es den Allos hoch, der schon früh in der Sonne liegt und nicht wirklich stresst. Südseite Allos ist oben etwas schmal, unterhalb von La Foux dann schön schnell. Abfahrt bis Colmars, dort einkaufen und einmal das Velo durch die mittelalterliche Innenstadt schieben, Rast am Rande der halbkreisförmigen Wiese nördlich der Stadtmauer. Ein kleines Stück, 1/2 Kilometer, wieder den Berg hoch zurück und den Abzweig rechts zum Col des Champs finden. Das ist wohl das kleinste und familiärste, schattigste und ungefegteste Strässchen weit und breit. Zum Aufstieg reicht das, und der Abstieg ist technisch gut in Schuss. Dafür gibt es dann oben auf der Passhöhe ein Felspanorama, das an die besten Dolomitenpässe wie den Giau erinnert. In der Abfahrt fast am Ende an der Gabel die rechte Strasse nehmen, sie ist ohne neuen Anstieg. Einkaufen in St. Martin kann man getrost vergessen, dort wächst nichts, also genug mitnehmen in Colmars. Die Beine melden sich dann am dritten Pass, der Cayolle Südseite, die eigentlich nicht hart ist, doch die Sonne steht von Süden auf der Strecke. Der kleine See in Estenc rechts lenkt etwas davon ab, dass man eigentlich demnächst genug hat, aber wir wollen ja zum Kochtopf auf die andere Seite zurück. Die Südseite der Cayolle ist richtig schön, und so freuen wir uns mit allen, die noch genügend Energie haben, dies wahrzunehmen. Einfach weiterkurbeln, denn irgendwann ist man oben, und dann hört jeder Schmerz auf. Auf der Nordseite ist die Cayolle richtig lang. Zuerst geht es bilderbuchmässig durch die Lärchen und über diese klischeehaft schönen Brücken. Es gibt einen Einschnitt, einen Szenenwechsel, wenn die Strasse in dieses ausgeprägte lange Tal eintritt. Die Cayolle, speziell die Nordseite, ist für mich der Pass, der so selten erwähnt wird und der so viel zu bieten hat, vielleicht noch mehr als die Bonnette, mehr als der Izoard, vielleicht der schönste französische Pass überhaupt, aber nur wenige fahren das. Die Passagen im unteren Drittel lassen eine Achterbahnfahrt langweilig erscheinen, die Jagd über die superschmalen Brücken, auf denen man in der Abfahrt Motorrädern Paroli bieten kann.
 
Die Kühle des türkis- bis eisblauen Wassers des Bachelard mit seinen Seitenschluchten. Den Nachmittag oder Abend geniesse ich in Barcelonette, in einem Cafe am Nordende der Plaza, wo man sich in rubinrote Sessel versinken lässt. Die Bonnette ist die Königin, wer sonst? Das Stilfser Joch und der Iseran machen ihr natürlich den Rang des höchsten Passes streitig, denn diese Pässe sind definitiv höher. Aber die Strassenbauer haben dem Pass halt noch das Häubchen draufgesetzt, das man zwar nicht fahren muss, aber doch fahren kann, und wer will die 2802 Meter nicht mitnehmen? Wohl an keinem anderen Ort habe ich so häufig das charakteristische Pfeifen der Murmeltiere gehört, sie aus nächster Nähe gesehen, wenn man langsam und fast geräuschlos bergauf fährt. Die Landschaft wird zur Wüste dort oben, zu viel Sonne, zu wenig Temperatur. Die Auffahrt von Jausiers aus ist ein echtes Schauspiel in mehreren Akten, das Preise verdient hat. Der Schwierigkeitsgrad ist erstaunlich neutral, nur der letzte Kilometer, das Häubchen selbst, das zwingt einen dann doch aus dem Sattel, auch wenn man mit 33x28 unterwegs ist.
 
Oben sollte man unbedingt verschnaufen, um wieder die Konzentration zurückzuerlangen. Es ist tückisch, dass man in der Höhe glaubt, alles regeln zu können, doch objektiv geht gar nicht so viel, so dass man ein wenig aufpassen sollte. Die Abfahrt nach Süden bis Bousieyas ist nicht ohne, und in der Mittagssonne ist es kein Vergnügen, vor und noch in den Kurven zu bremsen, wenn der Asphalt wellig aufgeschoben ist. Das knallt. Doch hat sich in den letzten Jahren in der Unterhaltung dieser Strassen viel Positives getan. Je nach Tageszeit kann es dann richtig Arbeit werden, das lange Stück hinter einem Punkt irgendwo zwischen St. Etienne und Isola bis zum Mittelmeer noch mit Anstand hinter sich zu bringen, mit Gegenwind, mit steigenden Temperaturen, mit sich verschlechternder Luftqualität, so dass sich der gesunde Mensch, der die Grossartigkeit der Berge für nun mehrere Hundert Kilometer erfahren hat, fragt: Warum muss man diese Tour eigentlich zu Ende fahren?
 
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